Die Autorin
Wer war Ellen G. White?
Im sonnigen Napa Valley, einem Tal im nördlichen Kalifornien, das von vielen Weinbergen durchzogen ist, befand sich Ellen G. Whites Altersruhesitz. Als sie 1915 in ihrem Haus starb, blieb sie ihren Nachbarn – zumeist geschäftige und wohlhabende Weinbauern, die viel arbeiteten und wenig Zeit hatten – als die kleine alte Dame mit dem weißen Haar in Erinnerung, die sich Zeit nahm und «immer so liebevoll von Jesus sprach». Jesus und seine Erlösung für uns Menschen beschäftigten Ellen G. White ihr Leben lang. 1896 schrieb sie: «Ich spreche so gern über Jesus und seine einzigartige Liebe … Komm doch zu ihm so wie du bist … dann wird er für dich alles sein, was du dir wünschst.»
Das literarische Schaffen Ellen G. Whites umfasst neben der christozentrischen Ausrichtung ein weites Spektrum an Themen wie Glaube und Religion, Bibel, Prophetie und Weltgeschichte, Erziehung, Charakter und Bildung, Ehe und Familie, Gesundheit, Ernährung und Mäßigkeit bis hin zu Mission und Evangelisation. Allen Bereichen liegt ein pragmatisches, ganzheitliches Menschenbild zugrunde. Ihr leicht verständlicher Schreibstil ist erbaulich, didaktisch und erwecklich zugleich und lässt oft die Seelsorgerin, Mahnerin und Trösterin mit einem tiefen Einblick in die Seele des Menschen erkennen.
In ihren Schriften verarbeitete sie auch viele Texte, die aus Büchern zeitgenössischer Autoren stammen, wenn sie passend und trefflich das zum Ausdruck brachten, was sie beschreiben wollte. Es ging ihr bei historischen Schilderungen nicht darum, eigene akademische Nachforschungen anzustellen. Sie verließ sich auf den Wissensstand ihrer Zeit. So mögen aus heutiger Sicht da und dort manche historischen Angaben als unvollständig erscheinen. Das ändert jedoch nichts an der geistlichen Intention ihrer Darstellung.
Doch die Liebe und Gnade des Erlösers Jesus Christus, der sein Leben am Kreuz opferte, vermag dem Menschen jetzt schon Halt und Trost im Sturm der Zeit zu geben. Vollendet und gewonnen ist der Große Kampf für uns Menschen aber erst durch die Machtübernahme Jesu Christi bei seiner Wiederkunft, die Ellen G. White bald erwartete und auf die sie ihre ganze Hoffnung setzte. Dann wird für immer offenbar, dass «Gott Liebe ist». Es darf nicht vergessen werden, dass dieser Kampf, so schrecklich er auch sein mag, letztlich eingebettet ist in Gottes souveräne Heilsgeschichte, die zu einem guten Ende führen wird.
Als Mitbegründerin der sogenannten Zweiten Adventbewegung (von lateinisch «adventus» – Wiederkunft oder Ankunft Jesu) in Nordamerika, aus der später die weltweite Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten hervorgegangen ist, stellte für Ellen G. White die bevorstehende Wiederkunft Christi dieses «gute Ende» dar, die endgültige «Erfüllung der christlichen Hoffnung und Sehnsucht». So besteht in ihren Augen die wichtigste Aufgabe der Adventisten darin, einer untergehenden Welt Hoffnung zu machen auf das kommende ewige und bessere Reich Christi. Gott wird die Welt – seine Schöpfung – nicht im Chaos versinken lassen, sondern einen neuen Kosmos schaffen. Für dieses gute Ende lohnt es sich zu leben und alles einzusetzen. Aus dieser Gewissheit heraus konnte Ellen G. White am Ende ihres Lebens bezeugen: «Jesus sehen … welch unaussprechliche Freude … jene Hände segnend nach uns ausgestreckt zu sehen, die einst zu unserer Erlösung durchbohrt wurden. Was tut’s, dass wir uns hier abmühen und leiden, wenn wir nur an der Auferstehung zum Leben teilhaben!» Endzeitliche Dringlichkeit, Glaubensgehorsam und Hoffnungsgewissheit prägten in besonderer Weise ihr religiöses Denken.
Die Adventisten hatten erkannt, dass sich Millers Deutung der biblischen Prophetie (Daniel 8,14) auf ein anderes Ereignis als die Wiederkunft Jesu bezog, nämlich auf einen Höhe- und Wendepunkt des heilsgeschichtlichen Wirkens Jesu als Fürsprecher im Himmel. Außerdem gelangten sie zu der Überzeugung, dass sich für die Wiederkunft Jesu kein Termin berechnen ließe. Trotzdem hielten sie am baldigen Kommen Jesu fest. Wie der 1860 gewählte Name («Seventh-day Adventist Church») der Freikirche zum Ausdruck bringt, gehörte der Glaube an die baldige Wiederkunft Christi von Anfang an zur grundlegenden Kernbotschaft der Siebenten-Tags-Adventisten. Mit der biblischen Lehre vom Sabbat («siebenter Tag»), dem von Gott in den Zehn Geboten festgelegten Ruhetag, setzten Adventisten ein Zeichen dafür, dass nur ein konsequent gelebtes und gehorsames Christentum vor Gott bestehen kann.
Nach und nach schlossen sich der Gruppe weitere prägende Persönlichkeiten an wie John N. Andrews, Uriah Smith, Stephen N. Haskell, John N. Loughborough u. a. 1863 veranlassten sie die organisatorische Gründung der Freikirche. Ihnen allen, besonders aber der um Identität und Einheit ringenden Ellen G. White, ist es zu verdanken, dass aus einer kleinen Schar enttäuschter Milleriten eine weltweite dynamische protestantische Missionskirche mit rund 22 Millionen Mitgliedern (Stand 2021) entstanden ist, deren missionarisches und sozial-karitatives Engagement Tausende von Bildungs-, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen hervorgebracht hat und deren Credo «Unser Herr kommt!» heute in allen Teilen und Winkeln der Erde verkündet wird.
Immer lag ihr daran, Jesus zu verherrlichen und seinem Charakter nachzueifern, selbst wenn sie an ihre eigenen Grenzen stieß oder Schwächen in ihrem Leben eingestehen musste: «Sage dir vielmehr: Jesus ist gestorben, damit ich lebe! Er liebt mich und will nicht, dass ich verlorengehe … verzage nicht, blicke auf ihn.» Um ihre ständig am Glauben zweifelnde Zwillingsschwester Elisabeth bemühte sich Ellen G. White ein Leben lang, allerdings nahezu erfolglos. 1891 schrieb sie ihr aus tiefstem Herzen: «Jedem, der mich fragt: ‹Was muss ich tun, um gerettet zu werden?›, antworte ich: Glaube an den Herrn Jesus Christus! Zweifle keinen Augenblick daran, dass er dich so retten möchte, wie du bist … Nimm Jesus beim Wort und klammere deine hilflose Seele an ihn.»
Von 1855 bis 1881 lebte Ellen G. White mit kürzeren Unterbrechungen in Battle Creek, Michigan, dem frühen Zentrum der Adventisten. Die kalten Wintermonate nutzte sie für ihr literarisches Schaffen, in den Sommermonaten ging sie auf Reisen und besuchte sogenannte Camp Meetings, manchmal fast 30 in einem Sommer. 1876 sprach sie bei einer Zeltversammlung in Groveland, Massachusetts, zu 20.000 Besuchern. Ihr Ehemann James White, dem sie vier Kinder schenkte, bemühte sich um die organisatorische Festigung der jungen Kirche. Die vielen Aufgaben als Verlagsleiter, Autor, Prediger und Vorsteher der Generalkonferenz – des kirchlichen Führungsgremiums der Adventisten – zehrten an seiner Gesundheit; James White hatte seit 1865 fünf Schlaganfälle erlitten, die schließlich zu seinem frühen Tod im Jahr 1881 führten. Noch 16 Jahre nach seinem Tod bekannte Ellen G. White: «Niemand kann ermessen, wie sehr er mir fehlt! Ich sehne mich nach seinem Rat und seinem Weitblick.»
Nach dem Tod ihres Mannes zog Ellen G. White an die Westküste des Kontinents und lebte abwechselnd, wenn sie nicht auf Reisen war, in Healdsburg und in Oakland, im nördlichen Kalifornien. Seit 1874 hatten die Siebenten-Tags-Adventisten ihren weltweiten Missionsauftrag in vollem Umfang erkannt und bereits in Europa Fuß gefasst. Ellen G. White besuchte die junge Mission in Europa (England, Schweiz, Norwegen, Frankreich, Deutschland, Italien) in den Jahren von 1885 bis 1887 und ermutigte die weit verstreut lebenden Glieder zu Einheit und treuer Nachfolge. Die Betonung des persönlichen Glaubens an Christus, das Bekenntnis zur Bibel als dem verbindlichen Wort Gottes und das Festhalten an der Hoffnung auf die baldige Wiederkunft Jesu standen im Mittelpunkt ihrer Predigten und Ansprachen.
Die meiste Zeit hielt sie sich in Basel auf, wo die Adventisten ein Verlagshaus errichtet hatten. Begleitet wurde sie u. a. von Ludwig R. Conradi, der ihr als Übersetzer und Berater zur Seite stand. In dem Schweizer Ort Tramelan war bereits 1867 durch das selbständige Wirken Michael B. Czechowskis die erste adventistische Gemeinde außerhalb Nordamerikas entstanden. 1886 hielt Ellen G. White dort die Einweihungspredigt für die neu erbaute Kapelle. Für die jungen Gemeinden in Europa bedeutete ihr Besuch «in der Diaspora» besondere geistliche Stärkung und Trost. Ein weiterer langjähriger Übersee-Aufenthalt in Australien (1891–1900), der zur Gründung einer Missionsschule bei Sydney (Avondale College) führte, zeugt ebenfalls von ihrem weltumspannenden missionarischen Engagement.
Die adventistischen Glaubensväter hatten anfänglich ihre erstrangige Aufgabe darin gesehen, von der Christenheit vergessene oder vernachlässigte Glaubenslehren (Sabbatlehre oder baldige Wiederkunft) zu verkünden. Sicherlich geschah dies zur Begründung der eigenen Existenz als Freikirche. Doch diese einseitige Verkündigung war – nach Aussage Ellen G. Whites – nicht nur «trocken wie die Hügel von Gilboa», sondern drohte auch in gesetzliche Betriebsamkeit umzuschlagen. Die junge Gemeinde benötigte dringend ein neues, lebendiges Christusbild. Ellen G. White unterstützte daher von ganzem Herzen die jungen Prediger E. J. Waggoner und A. T. Jones, die während der Konferenz eine christozentrische Wende im Denken der Adventisten forderten, indem sie in ihren Ansprachen Kreuz und Rechtfertigung in die Mitte des Glaubens rückten. Sie selbst begann in den nun folgenden Jahren unter dem Eindruck der Erweckung von Minneapolis ihre bedeutendsten Werke über das Leben und Wirken Jesu zu schreiben. Die Konferenz führte auch zu mannigfachen missionarischen Impulsen, sodass sich die Zahl der Gemeindeglieder zwischen 1888 und 1901 verdreifachte.
Die Gewissheit der Liebe Gottes, seiner rettenden Gnade und seines baldigen Wiederkommens blieben das Fundament ihres gesamten Lebens und Wirkens. Dabei war ihr das Studium der Heiligen Schrift von größter Bedeutung: «Wenn ich erfahren will, wer Jesus war und was er für mich als Erlöser getan hat, muss ich mich an das göttliche Wort der Bibel halten. Dort hat sich Jesus den Menschen offenbart.» – «Das Wort Gottes», so schreibt sie an anderer Stelle, «ist ausreichend, um den dunkelsten Verstand zu erleuchten; es kann von allen verstanden werden, die den Wunsch haben, es zu verstehen.» Ihren prophetischen Anspruch stellte Ellen G. White immer unter das ewig gültige Wort Gottes, denn «Gottes Wort ist der untrügliche Maßstab».